Mittwoch, 8. Januar 2014

Keine Heide-Idylle

Der Roman ist in verschiedenen Hard- und Softcover-Ausgaben erschienen,
von denen gebraucht noch zahlreiche Exemplare erhältlich sind.
Wie erst gestern bekannt wurde, ist am 31. Dezember 2013 Irina Korschunow gestorben. Die in Stendal als Tochter einer deutschen Mutter und eines russischen Vaters geborene Autorin wurde 88 Jahre alt. Ich nehme ihren Tod zum Anlass für eine Buchempfehlung:
Mit "Der Eulenruf" hat Irina Korschunow 1985 einen bewegenden und unbedingt lesenswerten  Roman über das karge, entbehrungsreiche Leben Anfang des 20. Jahrhunderts in der Lüneburger Heide geschrieben. Die Geschichte spielt im fiktiven Dorf Südwinnersen. Dort bringt an einem kalten, nebligen Herbsttag des Jahres 1903 die abgearbeitete Bauersfrau Magdalena Cohrs als unerwünschten Nachkömmling ein Mädchen zur Welt – und stirbt bei der Geburt. Bald stirbt auch der Vater, und die kleine Lene wächst, widerwillig geduldet, im Haushalt des zwanzig Jahre älteren Bruders Willi auf. Ihre Kindheit besteht aus Demütigungen, Schlägen und endloser Plackerei. Aus dem Armut, Gefühlskälte und Perspektivlosigkeit flüchtet sich Lene in die fromme Welt der Psalmen, Gebete und Kirchenlieder. Die Dorfbewohner nennen sie bald nur noch "de Nonn".
Als junge Frau verlässt sie mit ihrer unehelichen Tochter Lisa Haus und Hof, geht in die Fremde und heiratet dort einen Buchhalter – eine Vernunftehe, denn die Tochter soll es besser haben, als sie es hatte. Doch irgendwann kann sie den Mann mit seiner Erbärmlichkeit und seiner Verlogenheit nicht mehr ertragen. Sie flüchtet erneut, inzwischen zu einer selbstbewussten, couragierten Frau gereift. Ihre Erinnerungen und Sehnsüchte führen sie wieder zurück nach Südwinnersen. Dort begeht sie, inzwischen 42 Jahre alt, im Frühjahr 1945, kurz vor Kriegsende, eine Gewalttat und rettet damit ihr Dorf, das nie ihre Heimat war, und verliert zugleich ihren Gott. Am Ende steht die Erkenntnis: "Wer immer den Weg bestimmt haben mochte, Gott konnte es nicht gewesen sein". Und Lene "geht quer durch die Heide, ihre Gestalt wird kleiner und verschwindet im Dunst."
Man ahnt es schon: Dieser Roman ist keine Heimatliteratur. Statt in poetischen Bildern zu schwelgen und die vermeintliche Idylle des bäuerlichen Lebens in der Heide zu preisen, Irina Korschunow das ungeschminkte Gesicht des Landlebens in der Heide in einer politisch und wirtschaftlich turbulenten Zeit. Sie erzählt von Armut und Unterdrückung, von religiösem Eifer und der Befreiung von alldem. Ein wichtiges Buch, das hilft, die Situation der Menschen in diesem einst so armen und kargen Landstrich besser zu verstehen.
"Der Eulenruf" ist in verschiedenen Hardcover- und Taschenbuchausgaben erschienen, zurzeit aber nur antiquarisch erhältlich.

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